Zufall und Notwendigkeit
Franz Rieder • Erkenntnistheorie und der Antagonismus der Zeit (Last Update: 19.11.2019)
Das Begriffspaar Zufall und Notwendigkeit markiert ein fundamentales, erkenntnistheoretisches Dilemma in der Philosophie, angefangen mit den verschiedenen Lesarten von Platons Timaios und gewiss auch innerhalb der platonischen Ontologie, so man von solch einer reden möchte, selbst. Sei’s drum, ob der Timaios der mittleren oder späten Schaffensphase Platons zugeordnet werden darf, das Problem war irgendwann unvermeidbar, ist es dem Denken seither doch immanent.
Der Streit unter Philosophiehistorikern entzündete sich daran, dass die sogenannten Revisionisten meinten, Platon habe in seiner letzten Schaffensphase die Vorstellung aufgegeben, dass die Ideen als urbildliche Muster der Sinnesobjekte aufzufassen seien. Im Timaios wird jedoch ein solches Verständnis der Ideen vorausgesetzt. Wesentlich ist, dass Platon einem erkenntnistheoretischen Dilemma begegnet, dass das Denken der nächsten tausendeinhundertfünfzig Jahre bis zum Zerreißen beschäftigt hat und später als die Frage der Theodizee bekannt wurde.
Bei Platon aber geht es noch um die Frage, wie der Nous und gleichzeitig der Kosmos oder die Idee des Einen, Ewigen, Unveränderlichen, Identischen mit sich selbst überhaupt zu denken ist, ist das Denken (Logos im Sinne der Aletheia) doch dem Wesen nach dem Veränderlichen, dem in der Welt-seiendem angehörig. Legt man Platon wörtlich aus, dann steht man schnell vor einem Widerspruch, der schwer zu erklären ist. Bezeichnet Platon im Dialog Phaidros die Seele als unentstanden, wird im Timaios die Erschaffung der Weltseele, der Einzelseelen und des Kosmos als ein Prozess geschildert. Erkenntnistheoretisch unlösbar ist die Aufgabe, jedwede Schöpfung und den Faktor Zeit in Einklang zu bringen. Im Timaios lesen wir von Schöpfungsvorgängen, die so beschrieben sind, als sei ein Schöpfungsakt gemeint, der zu einer bestimmten Zeit stattgefunden hat, eine Schöpfung also aus dem Nichts. Demnach wäre aber das Nichts früher als das Sein und es bleibt die Frage, wie aus Nichts alles entstehen kann, da ja im Nichts kein „Beweger“ und schon gar keine Ursache im Sinne der Möglichkeit von Erkenntnis gegeben sein kann? Und ebenso hätte die sinnlich wahrnehmbare Welt vorher nicht existiert und wäre nach der eigentlichen Schöpfung entstandenen und zeitabhängigen Dingen zuzurechnen.
Aber was wäre denn eine Schöpfung aus dem Nichts, ohne die Schöpfung der sinnlich wahrnehmbaren Welt, also des Seienden? Die Platoniker erkannten bald, dass diese Verbindung von Schöpfung und Zeit, Schöpfung also vorgestellt als Vorgang in der Zeit, in unlösbaren, philosophischen Schwierigkeiten mündet und man einigte sich darauf, dass Platon die Weltschöpfung nur zum Zweck der Veranschaulichung wie einen zeitlichen Vorgang geschildert hat, zumal das Platon generell gerne tat, Analogien zur Verdeutlichung und Veranschaulichung zu benutzen. In Wirklichkeit habe er eine überzeitliche Schöpfung gemeint und den Kosmos für ewig gehalten. Nach den dahin gehenden Deutungen der Platoniker, die Platons Auffassung wohl auch am nächsten kommt, hat die Schöpfung weder einen Beginn noch ein Ende. Gleichzeitig aber lesen wir, dass nach der Schilderung im Timaios vor der Schöpfung nicht das Nichts existiert, sondern immerhin schon die ungeordnete Bewegung der Materie im Chaos, die der „Notwendigkeit“, also völlig zufälligen Ereignissen folgt. In dieses Chaos greift der Demiurg ein. Er erschafft nicht aus dem Nichts, sondern ordnet die bereits existierende Materie, indem er sie durch Gestalt und Zahl formt und den Dingen Maß verleiht. So bringt er aus dem Chaos die Welt hervor, die er zum kugelförmigen Kosmos, dem wohlgeordneten Universum, gestaltet. Er sorgt für Harmonie zwischen den Bestandteilen des Alls und etabliert die mathematischen Gesetzen folgende, bestmögliche Weltordnung.
Seine schöpferische Tätigkeit führt der Demiurg aus, indem er auf die ewigen Ideen „hinblickt“ und der ursprünglich formlosen Materie etwas vom Wesen der geistigen Vorbilder vermittelt. Dies vollbringt er jedoch nicht unmittelbar, sondern er benötigt dafür die Weltseele, die er als vermittelnde Instanz zwischen der rein geistigen Ideenwelt und dem physischen Weltkörper erschafft. Wir sehen hier den Anfang der klassischen Idee der Vermittlung, schon gedacht als Annäherung und Ausgleich von Unterschiedlichem und Gegensätzlichem in einem gedanklichen Prozess und zum anderen den darin fortschreitenden Erkenntnisprozess, wie er später von Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes ausgearbeitet werden sollte.
Wie wir sahen, fällt der Weltseele die Kardinalaufgabe zu, den Kosmos richtungsweisend zu beleben und so gut es irgend geht zu lenken. Doch damit nicht genug der Arbeit für den Demiurgen. Auch die individuelle Menschenseele, gewissermaßen die unterste Ebene der Seelenordnung, gehört mit in sein Tätigkeitsprofil, jedenfalls was den unvergänglichen Teil der Menschenseele angeht; der Rest, der vergängliche Teil, gehört nicht zur Stellenbeschreibung des Demiurgen, dafür aber zu seinen Geschöpfen, die von ihm abstammen und ihm auch untergeordnet sind. Sie sind es auch, die für die Erschaffung des Körpers zuständig sind und die die Ordnung der Welt vollenden.i Die Ordnung der Welt und des Kosmos, die ja nach Platon eine geistige Ordnung sein muss, ist ein hierarchisch gedachter Schöpfungsvorgang mit einem obersten Gott, der nicht an der Schöpfung beteiligt ist. Er ist der ewige Gott, seine Emanationen sind die ewigen Ideen und das universelle Prinzip des Vorrangs des Geistes gegenüber der Materie, des geistigen Ursprungs alles Seienden. Im Christentum entspricht das dem Heiligen Geist. Platon lehrt, dass alles Seiende das bestmögliche Ergebnis ist, das von einer göttlichen Instanz geschaffen und dessen Vernunft nach geordnet wurde. Was also der Demiurg erschafft, ist das den Menschen zugängliche, sinnlich wahrnehmbare und allesamt vergängliche Seiende, das nicht das Ergebnis eines zufälligen Geschehens ist, sondern Abbilder überzeitlicher Urbilder, der platonischen Ideen.
So hat Platon Vernunft und Ordnung in seiner Lehre und selbst die Zeit, also das Werden und Vergehen schon als Verzeitlichung unzeitlicher, ewiger Ideen genial untergebracht. Wie immer wir den Demiurgen auch nennen werden und denken wollen, an ihm wird sich im Fortgang der abendländischen Philosophie so mancher Streit entzünden. Was wir allerdings ganz fundamental festhalten wollen ist das „Schicksal“, das die Ananke, gedacht als der Zufall in der kosmischen Ordnung, im philosophischen Fortgang des platonischen Denkens erleidet. Das den Menschen zugängliche, sinnlich wahrnehmbare und vergängliche Seiende, sei nach Platon nicht das Ergebnis eines zufälligen Geschehens, sondern das einer wie auch immer gearteten Vernunft. Das werden wir bezweifeln. Ohne aber gleich hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass es eben Platon ist, der alles Denkbare als im Kern fundamental bestimmt aus der Spannung zwischen Zufall und geistiger Notwendigkeit.
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Anmerkungen:
i Zur Rolle des Demiurgen im Timaios siehe Luc Brisson: Le Même et l’Autre dans la Structure Ontologique du Timée de Platon, 3. Auflage, Sankt Augustin 1998, S. 29–54, 71–106
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